Auszug | eb - Elektrische Bahnen 4 | 2020

144 Historie 118 (2020) Heft 4 Vor 100 Jahren: Gründung der Deutschen Reichsbahn Die Zusammenführung der Länderbahnen des vormaligen deutschen Kaiserreiches und der nunmehrigen jungen Weimarer Republik und damit die Gründung der Deutschen Reichsbahn am 1. April 1920 war ein zentrales Ereignis in der Verwaltungsgeschichte des öffentlichen Verkehrs. Alle geläufigen Evolutionen von Gleisen und Brücken, Lokomotiven und Wagen, Zuggattungen und Fahrplänen wurden und werden unterfüttert und überlagert von Fragen und Entscheidungen zur Trägerschaft der Bahn als Behörde oder als Unternehmen und in zentraler oder regionaler Führung. In jedem Land der Welt ging es bei Weichenstellungen zum riesigen Arbeit- und Auftraggeber Eisenbahn mit seinen immensen Einflüssen auf Produktion, Handel und militärische Beweglichkeit und der hohen nationalen Symbolwirkung von Bahnhöfen und Zügen um große Politik. Benutzung eiserner Kunststraßen Vom 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert war in Frankreich, Großbritannien, Preußen und Bayern der Kanal für die Güterschifffahrt das vorrangige infrastrukturelle Projekt. Von ihm wollte man das Verkehrskonzept für die mit Dampflokomotiven zu befahrenden „eisernen Kunststraßen“ ableiten. Die privaten Nutzer würden dem Staat als Erbauer und Verwalter angemessene Gebühren entrichten. Die Komplexität des Systems Eisenbahn gebot aber die hierarchische Zusammenfassung der laufenden Unterhaltung der Schienenwege, der Überwachung der Dampfkessel und der Bremsen, der Unterweisung und Beaufsichtigung des Personals, der Bedienung der Signale und der Protokollierung der Zugläufe. Ökonomisch überzeugte außerdem die unternehmerische Bündelung von Personen- und Güterverkehr. Erst mit den vielfältigen Kommunikationstechniken unserer Tage kann man eine Vielzahl von Anbietern auf die Strecke lassen. Alltägliche Fehlleistungen und Ausfälle belegen weiterhin die Grenzen dieses Modells. Betriebs- und Verkehrskomplex Eisenbahn Der Strecken-, Fahrgeschäfts- und Werkstättenorganismus konnte als staatliche Behörde oder als Privatfirma aufgebaut werden. Ersteres Modell setzte sich in Braunschweig, Bayern, Baden und Württemberg durch, Letzteres zunächst in Preußen, Sachsen und Österreich. Maßgeblich war jeweils das Kräfteverhältnis zwischen Privatkapital und staatlichen Potenzen. Industrie und Banken an Rhein und Ruhr waren zahlungskräftig genug, um die Cöln-Mindener Eisenbahn auf Aktienbasis zu bauen. Weitere Gesellschaften in Preußen folgten in dichter Folge. In Österreich war der Staat so knapp bei Kasse, dass er das weitgespannte Konzept des Schienenweges vom Adriahafen Triest über den Donauhafen Wien bis zu den Weichselhäfen bei Krakau den internationalen Großbanken überlassen musste. Bayern, Baden und Württemberg waren zwar auch nicht mit staatlicher Finanzkraft gesegnet, doch war das Handelskapital hier noch nicht zum dynamisch agierenden Industriekapital gereift, sodass der Staat einspringen konnte und musste. Bundesstaat 1871 Die territoriale Zersplitterung des deutschen Sprachraums war nach den napoleonischen Eingriffen vorbei. Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden waren nach 1815 souveräne und lebensfähige Subjekte des Völkerrechts und bauten neue Verkehrswege innerhalb der eigenen Grenzen. Der Deutsche Bund jener Zeit besaß keine Staatsautorität. Nach der Reichgründung 1871 gab es Bestrebungen, die Bahnen der regionalen Monarchien in eigene Verwaltung des Kaiserreiches zu übernehmen. Entsprechende Forderungen des Reichskanzlers von Bismarck aus dem Jahre 1876 scheiterten am stark bundesstaatlichen Charakter des wilhelminischen Reiches. Nahezu alle Bereiche staatlicher Verwaltung waren den Ländern verblieben. Nur die Briefmarken der Reichspost symbolisierten – mit Ausnahme BayWappenschild für die Deutsche Reichsbahn (Sammlung Dr. Samek/Konrad Koschinski, Montage: BahnEpoche).

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