Haltepunkte | Leseprobe

11 Prolog Szenenwechsel. Wieder Bahnhof Hamburg-Altona, fast auf den Tag genau 50 Jahre später. Es ist der 31. März 2016. Auf Gleis 9 steht ein ungewöhnlicher Zug. Die blitzblank polierte Lok, die E 103 245, ist die letzte Vertreterin der Intercity-Generation aus den 70-er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die bei der Deutschen Bahn noch im Dienst ist. Ihr folgen brandneue Reisezugwagen der Tschechischen Staatsbahn. In der nüchternen Sprache der Bahn handelt es sich um den Sonderzug IC 2599 von Hamburg-Altona nach Berlin. Doch dieser Zug hat einen Namen. Einen Namen mit traditionsreichen Bezügen. Er heißt »Fliegender Ingulf«. Kurz vor 16 Uhr beginnt Ingulf Leuschels letzte Dienstreise von Hamburg nach Berlin, der letzte von hunderten Sprüngen von der Elbe an die Spree im halben Jahrhundert zuvor. Auf der Strecke, auf der zu Vorkriegszeiten der Dieseltriebzug »Fliegender Hamburger« im Rekordtempo unterwegs gewesen war. Mit an Bord Weggefährten, Vorgesetzte, Kollegen, Familienmitglieder. Unter strenger Geheimhaltung waren sie zusammengetrommelt worden, und es hatte einige Mühe gekostet, den Konzernbevollmächtigten der Deutschen Bahn AG für das Land Berlin an seinem letzten Arbeitstag wirklich noch zu einer Dienstreise nach Hamburg, zu Wirtschaftssenator Frank Horch, zu gewinnen. Der war natürlich ebenfalls eingeweiht und als alter Freund Leuschels mit diebischem Vergnügen dabei. Als dieser nach dem Gespräch vor dem Hamburger Rathaus stand, wurde er dort von drei Kollegen empfangen und zum Bahnhof Altona, wo alles begonnen hatte, eskortiert. Die Eisenbahner aus Prag hatten den Zug gestellt. Es war ein Dank für die über Jahre vertrauensvolle und freundschaftliche Zusammenarbeit mit Ingulf Leuschel, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der grenzüberschreitende Verkehr der Eisenbahnen zwischen Deutschland und Tschechien ausgebaut wurde. Bei böhmischer Küche ging es nach Berlin, wo der Konzernbevollmächtigte dann offiziell in einer Feierstunde in den Ruhestand verabschiedet wurde. Ein halbes Jahrhundert im Dienst der Eisenbahn: ein vielseitiges Berufsleben von der Pike auf, mit vielen Stationen und Aufgaben, mit vielen Eindrücken, Erlebnissen und Begegnungen. Eine bemerkenswerte Karriere zudem, die nicht zuletzt durch den inneren Antrieb und die qualifizierte Neugier immer wieder neue Perspektiven und Herausforderungen bereithielt.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjY3NTk=