Auszug | eb - Elektrische Bahnen 6 | 2019

217 Standpunkt 117 (2019) Heft 6 Normen und Systemverständnis I n den zurückliegenden Jahren hat die Zeit- schrift eb – Elektrische Bahnen des Öfteren über die Normungsarbeit und die dabei auftreten- den Herausforderungen berichtet. Normungs- arbeit ist ein ständiger Prozess. Es kommen immer neue Normen hinzu. Bestehende Normen müssen überarbeitet werden. Dabei gibt es Aktivitäten auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Waren in der Vergangenheit Normen häufig Emp- fehlungen, werden sie heutzutage durch Querver- weise zum Beispiel in den Technischen Spezifikatio- nen für die Interoperabilität zu einzuhaltenden Vor- gaben mit Gesetzescharakter – und das, obwohl Normen nicht von Juristen sondern von Technikern verfasst werden. Die Experten werden von verschie- denen Unternehmen, zu denen Bahnunternehmen, die Bahnindustrie oder auch Consulter zählen, für die Normungsarbeit entsandt. Die Anzahl der akti- ven Mitarbeiter, die sich in die Normungsarbeit ein- bringen, ist begrenzt. Normungsarbeit setzt persön- liches Engagement, Erfahrung und Systemverständ- nis voraus. Es ist sicher richtig anzunehmen, dass Normen als Dokumentation der Anerkannten Regeln der Technik eine herausragende Rolle spielen. Sie sollen dafür sorgen, dass etwas zusammenpasst und ein sicherer Betrieb gewährleistet ist. Häufig werden Normen als eine Art „Kochbuch“ angesehen, das man einfach nur befolgen und abarbeiten muss, auch ohne über das notwendige Hintergrundwissen verfügen zu müssen. Es ist einfach praktisch, sich auf eine Norm verlassen zu können. Dann muss man nicht weiter darüber nachdenken. Es steht ja so drin. Genau das können Normen jedoch nicht leisten. Zunehmend kann sich das gar als Irrtum heraus- stellen: Es zeigt sich bereits heute, dass es zuneh- mend schwierig oder unmöglich ist, Normen so zu verfassen, dass sie widerspruchsfrei zu anderen Nor- men sind und sich technisch sauber begründen las- sen, ohne dass dabei bisher akzeptierte technische Lösungen infrage gestellt werden. Und selbst die of- fiziellen Sprachversionen ein und derselben Norm sind technisch leider nicht immer identisch, obwohl sie es sein sollten. Unpräziser Sprachgebrauch führt hier zu nicht unwesentlichen Abweichungen. Sich allein auf Normen zu verlassen, ist unmög- lich, insbesondere dann, wenn man das technische Umfeld nicht kennt oder Systemverständnis fehlt. Normen beschreiben das Wie, aber nur selten das Warum. Das ist auch nicht ihre Hauptaufgabe. Um Normen korrekt anwenden zu können, ist ein grund- legendes Systemverständnis Mindestvoraussetzung. Leider geht das Wissen über das Warum zunehmend verloren oder ist zumindest nicht mehr immer abruf- bereit. Erfahrene Experten gehen in den Ruhestand. Mit ihnen geht das Wissen verloren, denn dieses ist nur selten hinreichend dokumentiert. Dazu bleibt im Tagesgeschäft zunehmend weniger Zeit. Die Forderung, immer neue Sachverhalte stan- dardisieren zu wollen, wird nicht erfüllbar sein: Die Anzahl der Experten ist begrenzt, deren zur Verfü- gung stehende Zeit ist im besten Fall begrenzt, so- mit kann eine Mehrung von Normen nur von noch mehr Experten bewältigt werden, die es aber so nicht gibt. Und es geht zunehmend der Überblick über alle Normen verloren. Darüber hinaus schrän- ken zu viele Normen Neuentwicklungen ein oder machen dies vom Verfahren her aufwändiger, ohne dass der eigentlichen Technik damit geholfen ist. Es muss heute konstatiert werden: Das Funda- ment der Normen ist nicht mehr ganz intakt, es muss repariert werden. Ansonsten wird man sich auf Normen nicht mehr verlassen können, und neuen Normen fehlt die solide Basis Die eb wird über die Normungsarbeit weiterhin berichten und Wert darauf legen, in Beiträgen das Warum mancher Festlegung zu erklären, um so das Systemverständnis zu fördern. Dr. Steffen Röhlig Chefredakteur

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