Auszug | eb - Elektrische Bahnen 5 | 2019

172 Fokus 117 (2019) Heft 5 Phantom Einheitsfahrleitung 1928 Durch die Eisenbahnliebhaberszene und bis in Fachkreise hinein irrlichtert eine „Einheitsfahrleitung 1928“, die es in Wirklichkeit bei der Deutschen Reichsbahn(-Gesellschaft) nie gegeben hat. In der neuzeitlichen Eisenbahnliteratur, besonders bei Modelleisenbahnern, manchmal auch bei Fach- leuten [1] und sogar in offiziellen Dokumenten [2] hält sich hartnäckig der historisch falsche Begriff „Einheitsfahrleitung 1928“. Erstmals nachweisen lässt sich dieser 1954 in zwei Fachartikeln desselben Autors [3; 4], eines anerkannten Fachmannes in ei- ner Schlüsselposition. Offenbar suchte dieser einen Sammelbegriff für die verschiedenen Fahrleitungs- bauarten der Vorkriegszeit mit festem Tragseil. Dabei wurde, obwohl man es damals hätte besser wissen können und müssen, einiges übersehen, besonders die in Mitteldeutschland und in Schlesien demon- tierten Anlagen [5]. Nach dem Ersten Weltkrieg bemühte sich die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft, vor der damals so genannten Elektrisierung weiterer Strecken die vie- len verschiedenen Vorkriegsbauarten zu vereinfa- chen. Deren Bauweisen waren vor allem durch die Fahrleitungsbaufirmen bestimmt, wie sie in [6] kurz beschrieben sind. Ein vom Reichsverkehrsministeri- um (RVM) 1921 einberufener, von Bernd Gleichmann geleiteter Fahrleitungsausschuss befand für die da- mals gefahrenen Geschwindigkeiten ein Kettenwerk mit nachgespanntem Fahrdraht und festem Tragseil als ausreichend, nachdem zwischen Freilassing und Bad Reichenhall ein kurzer Fahrleitungsabschnitt von der AEG-Bauweise mit nachgespanntem Tragseil hie- rauf umgebaut und erprobt worden war. Im öffent- lich zugänglichen Fachschrifttum wurden die Ergeb- nisse 1924 vorgestellt [7; 8], wobei der Begriff „Ein- heitsfahrleitung“ soweit bekannt erstmals auftaucht. In Elektrisierungsplanung befindliche Streckenab- schnitte wie Leipzig-Schönefeld – Engelsdorf (Mittel- deutschland) und Lauban – Schlaurath (Schlesien) [6] erhielten nun einheitliche Fahrleitungen und wa- ren doch grundverschieden. Denn die in manchen damaligen Fachzeitschriften hoch gelobte Einheits- fahrleitung war genau genommen nur ein Einheits- kettenwerk , dessen Systemparameter keineswegs einheitlich waren. Weder Längsspannweite (Abstand zwischen zwei Stützpunkten), Systemhöhe (Abstand Fahrdraht – Tragseil am Stützpunkt) noch b-Maß und c-Maß (seitliche Auslenkung Fahrdraht – Gleis- mittelsenkrechte am Stützpunkt – Zickzack – und maximal zulässiger Wert) wurden festgelegt, von ei- ner einheitlichen Ausführung der Stützpunkte ganz zu schweigen. Das war zunächst auch durchaus so gewollt [9]: „Zur Vereinfachung der Unterhaltsarbeiten be- schloss die Deutsche Reichsbahn vor Wiederaufnah- me der Arbeiten im Jahre 1920 den Aufbau der Fahr- leitung, soweit möglich, zu vereinheitlichen. Es wur- de die Einheitsfahrleitung entworfen, …. Die Verein- heitlichung erstreckt sich allerdings im wesentlichen nur auf die einzelnen Teile des eigentlichen Ketten- werks, (also) Fahrdraht, Tragseil und Hängeseile. Das Quertragwerk, (also) Maste, Ausleger, Joche, Quer- seile samt den Isolatoren und die sonstigen Befesti- gungsteile konnten nur in beschränktem Umfang vereinheitlicht werden, da ihre technische Entwick- lung noch nicht genügend abgeschlossen ist. Es hat Bild 1: Stützpunkte für Einheitsfahrleitung Deutsche Reichsbahn(-Gesellschaft) auf freier Strecke, Beispiele (Fotos: Sammlung T. Scherrans ). obere Reihe links Mitteldeutschland, Zuführungsstrecke Güterbahnhof Halle (Saale), einfache Isolation mit Motorisolatoren (Errichter BBC, 1927) mittig Bayern, Strecke Trudering – Grafing, Formeisen-Schrägausleger (1927) rechts Bayern, Strecke Augsburg – Stuttgart, Fahrdrahtnachspannung mit Hebelspanner (1933) untere Reihe links Schlesien, Moys – Hermsdorf (Strecke von Görlitz nach Osten), Rohrausleger, doppelte Isolation, neutrale Ausleger- und Spitzenrohre (Errichter SSW, 1923) mittig Bayern, Strecke Starnberg – Tutzing, doppelte Isolation mittels Dreieraggregat (Errichter AEG, 1924) rechts Schlesien, Kanth – Mettkau (Strecke von Breslau nach Südwesten), einfache Isolation mittels Weitschirmstützisolatoren, Zweigleisausleger vor Hauptsignalen, vermutlich ≈70m Längsspannweite (Errichter AEG, 1927/28).

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