Auszug | eb - Elektrische Bahnen 8-9 |2018

265 Standpunkt 116 (2018) Heft 8-9 Herausforderung bei der Elektrifizierung ie ersten Bahnstrecken wurden in Deutsch- land bereits um 1895 beginnend mit der Strecke Meckenbeuren – Tettnang elektrifi- ziert [1]. Seitdem wurden unterschiedliche Fahrleitungssysteme entwickelt, entspre- chende Arbeitsmethoden zur Montage dieser Systeme definiert und über die Jahre neben der Technik auch hinsichtlich der Arbeitssicherheit verfeinert. Besonders in den Nachkriegsjahren wurden von der Deutschen Bahn (DB) als auch der Deutschen Reichsbahn (DR) er- hebliche Anstrengungen unternommen, um möglichst schnell Haupttrassen zu elektrifizieren. Damals wurden im Zeitraum 1965 bis 1969 pro Jahr rund 600 km elek- trifiziert. Dies gelang nur, indem alle Beteiligten an ei- nem Strang zogen. Es wurden Strecken komplett ge- sperrt. Teilweise mit Helikoptern wurden die Maste in einer rasant schnellen Zeit gesetzt. Auch heute noch sind solche konzertierten Maßnah- men möglich, wenn alle Beteiligten dies wollen. Heute stehen wir glücklicherweise wieder vor einer solchen Aufgabe, denn nachdem in den letzten Jahren nach der Finanzkrise der Fokus der Bahnbetreiber weniger auf der Elektrifizierung lag, ist nun auch die politische Prio- rität hoch, den Elektrifizierungsgrad zu erhöhen. Denn nur das System Bahn kann durch die Übernahme grö- ßerer Transportleistungen und Nutzung CO 2 -neutral gewonnener Energie mithelfen, die gesetzten Ziele des Pariser-Abkommens zu erreichen. Was hindert uns heute daran, die Jahresleistungen von damals zu erreichen? Vorrangig ist dies sicherlich der Fachkräftemangel, aber auch die Regulierungsflut und der oft ungelöste Zwiespalt zwischen Bahnbetrieb und Baustellenorganisation. Diese drei Aspekte haben auch untereinander wichtige Wechselwirkungen, die zu betrachten sind. Das Kerngeschäft eines Eisenbahninf- rastrukturbetreibers ist die Bereitstellung von Trassen, um über vereinbarte terminlich stabile Fahrpläne mög- lichst viele Zugtrassen zu verkaufen. Die Instandhaltung von Strecken oder die nachträgliche Elektrifizierung führt damit oft zu einem Zielkonflikt. Doch nur kurze Sperrzeiten, und dann noch möglichst nachts, an Wo- chenenden und an Feiertagen, um betriebsschonend die zuvor genannten Tätigkeiten durchzuführen, sind zum einen unterm Strich unwirtschaftlich für alle, und zum anderen geht es zu Lasten der Mitarbeiter. Denn die Gleisarbeiter und Monteure haben damit nur ein verringertes Sozialleben mit Familie und Freunden. Da- rüber hinaus kommen sie nicht auf ihre Wochenarbeits- stunden und damit nicht zu einem attraktiven Ver- dienst. Dieser Zielkonflikt führt dazu, dass bei dem momentanen Fachkräftemangel die Attraktivität ande- rer Sektoren, beispielsweise der Automobilbranche, mehr und mehr steigt. Kurze Sperr- pausen verhindern auch den Einsatz von effizienter Maschinentechnik, die ein wesentlich schnelleres Arbei- ten ermöglichen würden. Der Ein- satz von kleineren Maschinen und Leitern wird zudem dadurch einge- schränkt, dass die Triebfahrzeugfüh- rer von gleisgebundenen Hubar- beitsbühnen und Baggern einen Führerschein analog eines ICE- Triebfahrzeugführers benötigen. Der Einsatz von Leitern wird ab 2020 durch eine Allgemeinverfügung per se bis auf Aus- nahmen verboten sein. Der Sektor ist nun im Zugzwang, Lösungen zu fin- den. Diese sind sowohl in der „Hardware“ als auch in „Software“, den sozialen Aspekten, zu suchen: bei- spielsweise im wirtschaftlichen Einsatz von Maschinen- technik bei gleichzeitiger Optimierung der Baustellenlo- gistikundderGestaltungeinerarbeitnehmerfreundlichen Arbeitswelt hinsichtlich Attraktivität, Sozialverantwor- tung und Sicherheit. Die Anforderungen sind dahinge- hend anzupassen, dass sie sinnvoll die Verantwortung abbilden, Montaggeräte zu bedienen. Und schlussend- lich muss dies alles im Einklang mit den Transportunter- nehmen erfolgen. Diese drei oben genannten Zielkonflikte können nur gelöst werden, wenn sich alle Beteiligten ihrer Verant- wortung und Pflicht gegenüber dem System Bahn be- wusst werden und bereit sind, Regulierungen zu über- denken und gegebenenfalls mit dem Gesetzgeber alte Zöpfe in Prozessen bewusst in gemeinschaftlicher Er- kenntnis der Konsequenzen abzuschneiden und neue logistische Methoden zur Baustellenorganisation zu entwickeln. Für die Findung entsprechender Lösungen müssen alle Beteiligten so schnell wie möglich an einen Tisch, denn das Jahr 2020 steht vor der Tür, und die Voraussetzungen zur Lösung der Zielkonflikte sind bis heute nicht hinreichend geschaffen. Gemeinsam Kurs halten – darum geht es. Für einen ehrgeizigen, effizien- ten und nachhaltigen Invenstitionshochlauf. Dr. Michael Bernhardt Vizepräsident Infrastruktur Verband der Deutschen Bahnindustrie (VDB) [ 1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Meckenbeuren% E2%80%93Tettnang; aufgerufen am 25.08.2018. D

RkJQdWJsaXNoZXIy MjY3NTk=